„KI wird unser Leben drastisch verändern“

Prof. Doris Weßels

Seitdem das Tech-Unternehmen OpenAI im November 2022 den ChatBot vorgestellt hat, ist Künstliche Intelligenz (KI) das Trendthema. Wie verändert KI das Berufsleben? Macht uns die Technik bald überflüssig? Fragen an Doris Weßels, Professorin für Wirtschaftsinformatik an der FH Kiel.

 

Mit ChatGPT kann man auf Knopfdruck Texte, Lieder und sogar Programm-Codes schreiben lassen. Wie funktioniert die Technik dahinter?
ChatGPT basiert auf maschinellem Lernen. Das Modell hat mit sehr großen Textmengen – einem Großteil der frei verfügbaren Quellen aus dem Internet – gelernt, wie Menschen zu formulieren und eigenständig Texte zu kreieren. Im Prinzip ist es wie ein smarter Wortsilbenwürfel, der nach statistischer Plausibilität Wortsilbe hinter Wortsilbe setzt.

Ist der Hype um ChatGPT gerechtfertigt?
Ja! ChatGPT bietet eine völlig neue Form der Interaktion mit dem dahinterliegenden KI-Sprachmodell. Deren Leistungsfähigkeit ist in den letzten Jahren drastisch gestiegen. Die großen Anbieter dieser Modelle konnten immer mehr Rechenleistung einsetzen, um sehr große Datenmengen zu Trainingszwecken zu verarbeiten, und es wurden neue Algorithmen und Software-Architekturen entwickelt. Wir erleben bei ChatGPT – in der kostenpflichtigen Plus-Variante – gerade ein explosionsartiges Wachstum an Funktionserweiterungen, sogenannten Plug-ins, vom Reiseportal Expedia bis zum Bezahldienstleister Klarna, die sich in ChatGPT integrieren lassen. ChatGPT wird so zu einem Tausendsassa mit vielfältigen Unterstützungsfunktionen für unser privates und berufliches Leben. Das Faszinierende ist, dass der Einsatz von ChatGPT so einfach und niederschwellig ist, dass dieses Werkzeug jeder benutzen kann.

Wie kann ChatGPT im Berufsleben unterstützen?
Ich kann zum Beispiel in PDF-Dokumenten Fragen zum Inhalt stellen oder mir Texte analysieren und bewerten lassen. Vieles mehr ist möglich, zum Beispiel Zusammenfassungen produzieren, Mails beantworten, Kundenbriefe erstellen lassen.

Klingt nach spannenden Tools …
Das ist mehr als ein klassisches Tool. Generative KI wird von vielen Expertinnen und Experten als Sprunginnovation bewertet, die nicht nur unser Privat-, sondern auch unser Berufsleben drastisch verändern wird. Es entstehen völlig neue Geschäftsprozesse. Eine solche Veränderungsdynamik auf einem digitalen Themenfeld habe ich noch nicht erlebt. Das wird die Arbeitswelt und Wirtschaft gravierend verändern und nicht erst in zehn Jahren, sondern in viel kürzeren Zeitzyklen. Wohin die Reise langfristig geht, ist kaum vorhersehbar.

Wird die KI den Menschen in der Berufswelt verdrängen?
Goldman Sachs hat berechnet, dass 300 Millionen Arbeitsplätze weltweit durch KI ersetzt werden könnten. Betroffen sind dieses Mal vor allem die Wissensarbeiter wie Texter, Juristen oder Architekten. Ich habe erst kürzlich eine Werbetexterin getroffen, die ihren Job an eine KI verloren hat. Wie viele neue Jobs im Gegenzug entstehen und ob es ein Nullsummenspiel wird, das wird sich erst zeigen.

KI ist nicht neu. Welche Anwendungsfelder außer ChatGPT gibt es noch?
Künstliche Intelligenz begegnet uns schon jeden Tag, ob bei der Google-Suche oder bei der Gesichtserkennung am Smartphone. Das beliebte Übersetzungstool DeepL basiert auch auf künstlichen neuronalen Netzen. In der Medizin wird KI bereits an sehr vielen Stellen eingesetzt, etwa bei der Tumorerkennung auf Röntgenbildern. Und inzwischen gibt es die ersten humanoiden Roboter, die Sprachmodelle wie ChatGPT nutzen, zum Beispiel die Roboter von Boston Dynamics.

Welche Gefahren und Risiken sehen Sie?
ChatGPT kann für Fake News oder Betrug missbraucht werden. Und auch eine KI macht Fehler. Im Falle von ChatGPT & Co. sprechen wir von sogenannten Halluzinationen, wenn inhaltlicher Blödsinn produziert wird. Wir brauchen deshalb einen regulatorischen Rahmen, etwa eine Kennzeichnungspflicht für Texte und Bilder, die autonom von KI generiert und ohne erkennbare menschliche Verantwortung und Qualitätssicherung veröffentlicht wurden. Mit dem geplanten EU AI Act möchte die EU jetzt manchen KI-Anwendungen sogar komplett einen Riegel vorschieben. Dass KI Menschen bewertet und die Personalauswahl bei Einstellungsverfahren bestimmt, wird verboten. Wir müssen aber auch aufpassen, dass wir nicht überregulieren, um an diesen Zukunftstechnologien in Deutschland und Europa teilhaben zu können und das Feld nicht nur Ländern wie USA und China zu überlassen. Unsere Rahmenbedingungen in Deutschland dürfen potenzielle Investoren nicht abschrecken, damit sie zum Beispiel Start-ups mit neuen KI-Geschäftsmodellen fördern. Hier die richtige Balance zu finden, das ist die große Herausforderung.

Zur Person: Prof. Doris Weßels von der FH Kiel forscht zum Einsatz von Natural Language Processing (NLP), der Technik hinter ChatGPT, und berät u. a. deutsche Bundestagsausschüsse, die Kultusministerkonferenz, Landesministerien, Hochschulen und andere Bildungseinrichtungen.

Dieses Interview erschien zuerst in 361°, dem digitalen Mitarbeitermagazin der NORD/LB.

Text: Jörn Lotze / Bild: Andreas Diekötter